i.

II.
III.

Die Schöpfung

zwischenspiel

DIE VERWANDLUNG
DIE Offenbarung

I.

Akt

Die Schöpfung

„Erste Mülheimer KinderUni“ Bildungsgerechtigkeit auf Rädern
Der Mülheimer Norden wird Universitäts-Stadt

Bildung ist wie der Zugang zu sauberem Wasser oder guter medizinischer Behandlung ein Menschenrecht, ein Recht auf Zukunft und gutes Leben. Seit Jahrzehnten mahnen internationale Beobachter und Organisationen an, dass Deutschland in punkto Bildungsgerechtigkeit viel zu wenig tut, gerade in benachteiligten Vierteln wie hier in Mülheim-Nord. Deutschland, ein mit Reichtum gesegnetes Land, gehört dabei zu den Schlusslichtern in Europa. Jetzt in der Krise fällt dieser Jahrzehnte alte Missstand plötzlich der Nation auf die Füße. 

Zu Besuch bei Sarah (v.l.), Filiz, Leonie (Mitte) und Agit in der Hacketäuersiedlung, Foto: Katja Tauber

Wir sind primitiv.

Primitiv heißt einfach, unkompliziert. Wir agieren als Nachbarn. Auf Augenhöhe. Unsere Initiative „Erste Mülheimer KinderUni“ hat kaum mehr als eine bescheidene symbolische Bedeutung. Aber jetzt heißt es, Zeichen zu setzen, was Bildung qualitativ heißen könnte, Bildung, die zu den Bedürfnissen unserer Nachbarschaft passt und Teilhabe ermöglicht. Seit Wochen jagt ein Krisengipfel mit der Auto- oder Luftfahrtindustrie den andern. Auf einen politischen Gipfel für die Kinder, die unsere Zukunft sein sollen, wartete man bisher vergebens. Die Datenkonzerne sehen jetzt ihre große Chance gekommen, Schule zu deregulieren und die Kinder mit elektronischer Bildung auf dem Tablett („e-learning“) auszurüsten. Das wird, kritisieren Bildungs- und Kindheitsforscher, bei weitem nicht reichen. Die Frage von Gerechtigkeit und Wertschätzung lässt sich nicht auf technische Hilfsmittel reduzieren.

Bildungsbollerwagen gestaltet von Social Designerin Julia Scherzl, Foto: Katja Tauber​

Wir sind radikal.

Radikal heißt, wir denken von der Wurzel her. Mülheims Norden wird Universitäts-Stadt. Wir öffnen das Universum der Bildung von unten her. Jetzt in der Corona-Bildungskrise ist es gut, direkt zu den Kindern ins Veedel zu gehen. Aus der Kindheitsforschung weiß man, wie wild Kinder aus Problemvierteln auf KinderUnis sind. Wir suchen die Kids auf: an Straßenecken, auf kleinen Plätzen oder in Hinterhöfen.  Wir tun dies mit Vorsicht, Verstand und Abstand. Wir organisieren die Erste Mülheimer KinderUni mobil. Wir bringen Bildung vor die Haustüre, um daran zu erinnern, welch große Bring-Schuld die Gesellschaft der nächsten Generation gegenüber hat. Wir bieten Bildung mit Bollerwagen, Bildschirm, Blickkontakt und Begeisterung.

Julia Scherzl unterwegs in Mülheim-Nord mit ihrem Bildungsbollerwagen, Foto: Katja Tauber

Wir sind (hoffentlich) intelligent.

Wir wollen Kinder mit einem ungewöhnlichen und anspruchsvollen Programm staunen machen. Der Pflanzenphysiologe Professor Dieter Volkmann (Bonn) macht den Auftakt in der Mülheimer KinderUni. Eigens hat er für uns ein Programm gestaltet. Unter normalen Umständen wäre er persönlich nach Mülheim zum Vortrag in den Kinosaal der Internationalen Filmschule (Schanzenviertel) gekommen. Aber eine Veranstaltung dieser Größenordnung ist derzeit nicht möglich. Nun hat Volkmann seine Lehrveranstaltung und seine Experimente zusammen mit Kindern eigens als Film aufgenommen. Ihn wird die rollende KinderUni zeigen. Im Rahmenprogramm werden wir Geschichten erzählen und suchen erstmals mit den Veedel-Kindern ins Gespräch zu kommen. Der Aufbau eines persönlichen Zugangs und die Perspektive der Kids stehen für uns über die KinderUni hinaus in den nächsten Monaten im Mittelpunkt. Wir lernen von uns gegenseitig.

Lehr-Film von Prof. Dieter Volkmann mit Neele (v.l.), Sören und Enno

Die Veedel-Kinder lassen sich nicht klein kriegen.

Wir denken weiter und bleiben zusammen. Die KinderUni ist nur ein erster Baustein einer viel umfassenderen Idee und mehrerer Aktionen. Ihr Ziel ist das große Sonnenblumenprojekt in der Schützenhofstraße. Wie viele andere Straßen im Viertel ist sie ein trauriges Pflaster. Von oben bis unten ist sie verstellt mit Autos. Dabei sollte die Schützenhofstraße eine Spiel- und Nachbarschaftsstraße sein. Nach den Ferien, am Sonntag, den 13. September, wird die Straße den Kindern gehören. Für einen Tag werden wir sie in ein Meer aus 1000 Sonnenblumen verwandeln. Sonnenblumen verheißen weltweit Aufbruch und Gemeinschaft. Die Aktion soll eine Ahnung davon geben, wie unser Stadtteil in Zukunft aussehen könnte. Sie soll erfahrbar machen, dass man Lebensräume und Lebensbedingungen gemeinsam gestalten und zum Besten aller verändern kann. Schon in den nächsten Tagen und die Ferien über machen wir uns an die Vorbereitungen und krempeln die Ärmel hoch, natürlich in kleinen Gruppen. Noch ist vieles total geheim. Aber alle Kinder aus dem Viertel sind zum Mitmachen schon jetzt herzlich eingeladen.

Die angehenden Sonnenblumenforscher bei der KinderUni in Köln-Mülheim,
Fotos: Katja Tauber

Prof. Dieter Volkmann

Dieter Volkmann leitete über viele Jahre eine Forschungsgruppe am „Institut für Zelluläre und Molekulare Botanik“ an der Universität Bonn. Er beschäftigte sich mit der Frage, wie Pflanzen auf ihre Art die Umwelt wahrnehmen, Umweltsignale beantworten und im Sinne von „Pflanzenintelligenz“ Probleme lösen.

Professor Volkmann und sein Team forschten u.a. für die NASA bzw. ESA und sind bekannt aus ARTE oder der „Sendung mit der Maus“. Der Biologe ist ein begeisterter Unterstützer des Projekts „Sunflower Evolution“.

 

Prof. Dieter Volkmann, Foto: Katja Tauber

Unser Flyer zur Bewerbung der „Ersten Mülheimer KinderUni“,
Illustration und Layout: Julia Scherzl

Zwischenspiel

Perturbation: Die große Verwirrung durch covid-19

Als das Virus über uns herfiel, war Julia mitten in der Vorbereitung der „Ersten Mülheimer KinderUni“, die Anfang April stattfinden sollte. Längst hatte sie dafür Mitstreiter und Kinder aus dem Veedel zusammengetrommelt und Unterstützung durch das Programm „Starke Veedel – Starkes Köln“ beantragt. Aber alles das – wie viele andere Ideen – muss nun auf Eis gelegt werden, bis die Epidemie vorüber ist.

Einstweilen konzentrieren wir unsere Kräfte auf die Hilfe für unsere Nachbarn und natürlich auf die Sonnenblumen im Fenster. 

 

 

Die Sonnenblumen-König*innen Ella (v.l.), Layla, Mavi, Emine und Fine wurden für ihre schönen Papiersonnenblumen mit einer Papierkrone geehrt. Gestaltung und Foto: Julia Scherzl.

Papiersonnenblumen in der Graf-Adolf-Straße gesichtet. Foto: Tina Lüthje-Gümüs

Lasst 1000 Sonnenblumen blühen.
Wir stehen DAS gemeinsam durch!

Fotocollage, Foto und Illustration: Julia Scherzl

Lasst 1000 Sonnenblumen blühen.
Wir stehen DAS gemeinsam durch!

Wir halten Abstand und gleichzeitig halten wir zusammen. Unser Gemeinschaftssinn, unsere Lebensfreude und unsere Hoffnung bleiben bestehen – trotz geschlossener Schulen und Läden, Kurzarbeit, Quarantäne und trotz allem an, was sonst noch auf uns zukommen wird.    

Mit jeder Papier-Sonnenblume im Fenster zeigen wir der Öffentlichkeit, dass niemand jetzt allein gelassen wird.     Deshalb:    

Lasst uns 1000 bunte Sonnenblumen schaffen als Zeichen dafür, dass wir als Nachbarn zusammenhalten.    

Jedes Bild, das in unseren Fenstern und in unseren Straßen erstrahlt, ist ein kleines Kunstwerk. Wir veranstalten einen Wettbewerb. Das beste Bild im Mülheimer Norden wird prämiert. Der Künstler*in mit der schönsten Sonnenblume wird zum Mülheimer Sonnenkönig*in gewählt!       

Dies ist eine Initiative der Social Designerin Julia Scherzl, unterstützt von: nachbarschaft köln-mülheim-nord e.V.

Wieviele Sonnenblumen im Mülheimer Norden aufblühen, könnt Ihr weiterverfolgen auf:

https://www.instagram.com/sunflower.evolution/  

Eine Kreativanleitung für eine Sonnenblume findest Du hier:

II.

Akt

Die
Verwan-dlung

Eigener Anbau - eine Erzeugergemeinschaft bilden

Living Lab: Die Kinder ziehen selbst über mehrere Wochen Sonnenblumen und lernen unter fortlaufender gärtnerischer Betreuung, wie man mit Pflanzen umgeht. Sie bringen die Samen zum Keimen, topfen die Setzlinge in größere Gefäße um und begleiten ihr Wachstum bis zur Blüte. Dann, im September schließlich versammeln sich die Veedel-Kinder und Angehörigen mit ihren Sonnenblumen zum großen Finale in der Schützenhofstraße.

Wachstumsentwicklung einer Sonnenblume, Foto: Julia Scherzl

Rollendes Labor

Sommerferien-Programm im Don-Bosco-Club. Die jungen Forscher schreiten zur Tat. Echtes Teamwork war angesagt. Aus einem Schrottauto bauten wir ein rollendes Labor. Im Labor untersuchten wir mit dem Mikroskop, wie Sonnenblumen beschaffen sind. Und wir warfen einen forschenden Blick auf ihre Nachbarschaft. Wir begegneten Asseln, Bienen, Feuerkäfern, Spinnen und vielem mehr! Auch hatte Julia von einem Sonnenblumen-Zwerg gehört, der sich auf dem Gelände von Don-Bosco versteckte. Schnell war sein Versteck entdeckt und der Zwerg konnte eingefangen werden. Welch ein Erfolg! 

Fotos: Katja Tauber

III.

Akt

Entwurf "Sonnenblumen-Boulevard" ,
Illustration Julia Scherzl, 2019

Die
Offen-barung

Straßen-Tristesse verwandelt
sich in einen
Sonnenblumen-Boulevard

Viele Monate haben sich die Veedel-Kinder im Mülheimer Norden ins Zeug gelegt. Am Sonntag, den 13. September, hieß es endlich: Vorhang auf zur Premiere! Die Schützenhofstraße wurde für einen Tag autofrei. Die Kids haben ihre Straße in einen großen „Sonnenblumen-Boulevard“ verzaubert. Sie haben gezeigt: Der Raum, das Viertel, in dem wir leben, ist gestaltbar. Gemeinsam können wir es verändern!

Wie könnten wir die Gemeinschaft unseres Veedels ins Bild setzen und symbolisieren? Dazu haben wir tief in den Fundus der Religionsgeschichte gegriffen. Wir fuhren zu einer Blumenkünstlerin an den Bodensee. Ihre Fronleichnamsteppiche sind berühmt. Sie zeigte uns, wie man solche Teppiche legt. Als Blickfang am Ende der Straße diente uns ein dreiflügeliges Altarbild und ein in einem Reliquienkästchen verwahrter Sonnenblumenkern. Der Kern verkörperte das Wachstum unserer Nachbarschaft. Das Bild nannten wir „Das Mülheimer Triptychon“. Stefan Lochner (gest. 1451), der bedeutende Kölner Meister und Botaniker hat dieser Idee Pate gestanden. Nur haben wir sein Werk ein wenig verändert und den Mülheimer Verhältnissen angepasst. Er möge uns den Eingriff verzeihen.

Sogar ein richtiges Ritual haben unsere kleinen Sonnenblumen-Novizen erlebt. Für die Kinder, die über mehrere Monate an unserem Sonnenblumenprojekt teilgenommen haben, hat Prof. Dieter Volkmann, Referent der „Ersten Mülheimer KinderUni“, ein richtiges Forscherdiplom vorbereitet. Unser Nachwuchs ist nun ganz offiziell als Krönung seiner wissenschaftlichen Karriere in den Stand der Jungforscher aufgenommen!

Alles das hat dazu beigetragen, dass wir einen schönen und feierlichen Tag erlebten.

Eine Anwohnerin aus der Schützenhofstraße, klassisches Mülheimer Urgestein, wollen wir stellvertretend für viele andere sprechen lassen. Spontan kam sie auf uns zu und konnte es kaum fassen. „Ich wohne hier schon seit 81 Jahren. Aber sowas? Sowas habe ich hier noch nie erlebt! So viele Blumen!“. Danach musste sie gleich ihren Sohn anrufen und von dem Wunder erzählen, das sich vor ihren Augen abspielte.

Dank an alle kleinen und großen Helfer aus unserer Nachbarschaft, die wirklich Wunderbares geleistet haben!

Fotos: Enno Schmitt

Foto: Enno Schmitt

Unglaub-
liches Geschenk des Himmels

Stefan Lochners
Mülheimer Triptychon

Resonanz

Menschen ringen um Resonanz. Sie wollen wahrgenommen werden. Unerwartete Resonanz und publizistische Schützenhilfe erhält unser Zukunftsprojekt ausgerechnet durch die Vergangenheit – durch eine Arbeit des „Kölner Meisters“ Stefan Lochner (gest. 1451, vermutlich an der Pest). Wir haben das Bild kurzerhand mit in unser Konzept übernommen.

Schützenhilfe

Lochners Werk, ein dreiteiliges Altarbild, ist vor kurzem erst auf dem Dachboden der Gaststätte „Schützenhof“ wiedergefunden worden. Zufall pur! Das Bild gilt als Vorstudie zu dem berühmten Dreikönigsaltar im Kölner Dom, der klassischen biblischen Anbetungsszene durch die Weisen aus dem Morgenland. Diese Szene steht in der christlichen Tradition für die Geburt eines neuen Zeitalters. Sie markiert den Anbruch von Frieden und Gerechtigkeit.

Fotomontage: Julia Scherzl

Einig im Kerngedanken

Interessant ist, dass der Maler den Kerngedanken des Sonnenblumen-Projekts in seiner Mülheimer Vorstudie bereits vor fast 400 Jahren vorweggenommen hat. Statt des üblichen Jesuskindes hält Maria einen Sonnenblumenkern in ihren Armen. Aber nur in der Mülheimer Vorstudie! Beim Dreikönigsaltar hingegen hat Lochner den Kern wieder entfernt – wohl auf Druck seiner geistlichen Auftraggeber.

Irritationen

Unter den Gutachtern hat das Mülheimer Triptychon zu heftigen Streitigkeiten um seine Echtheit geführt. Mittlerweile haben sich die Wogen wieder geglättet. Das Bild wird damit  als Jahrhundertfund in die Kunstgeschichte eingehen. Kleine Unstimmigkeiten bei den einzelnen Bildmotiven lassen sich freilich nicht mehr klären.

Das Mülheimer Triptychon
geht auf Reisen

Es wird in den bedeutendsten Museen der Welt bewundert werden können. Hier in Mülheim war es vorerst nur am 13. September 2020 zu sehen.

Kunstführer

Freunde der schönen Künste beachten bitte auch die ausführliche Erläuterung des Mülheimer Triptychons und seiner Geschichte durch den Kunstsachverständigen und Gymnasiallehrer a.D. Prof. Willi Zonnebloem, Sonneberg (Thüringen). Den elektronischen Volltext findest Du unten.

Danke an Prof. Zonnebloem für seine erstklassige Expertise!

Ach! So!

Fast hätten wir’s vergessen. Immer wieder werden wir gefragt, warum Stefan Lochner bei der  Geburtsszene in Bethlehems Stall (Horn-) Ochse und Esel zu malen vergessen hat? Die richtige Antwort heißt: nicht vergessen. Er hat nur den Betrachter in die Gesamtkonzeption mit einbezogen. Sie dürfen sich also gerne mal auch an den eigenen Hörnern packen!

Foto: Enno Schmitt